DARF EINE TRAUERFEIER SCHÖN SEIN?
Menschen mit Worten des Abschieds zu begleiten, ist immer eine Herausforderung. Die richtigen Worte zu finden für einen Menschen, den man nicht kannte, ist eine Gratwanderung.
Wie berühre ich Menschen in einer würdevollen Form, ohne den Tag dramatischer zu machen, als er ohnehin schon ist? Ist es wirklich möglich auf einer Trauerfeier das Leben zu feiern?
In der Zeit, in welcher meine ersten Trauerreden entstanden sind, wurde mir die Ehre zuteil, einen besonderen Menschen auf seinem letzten Weg zu begleiten. Dieses Erlebnis ist eines meiner Schlüsselerlebnisse und hat für mich erlebbar gemacht, was eine freie Trauerfeier wirklich ist. Was Freiheit ist.
Wenn ich den Angehörigen erkläre, was der Unterschied zwischen einer freien Trauerfeier und einer kirchlichen Trauerfeier ist, dann erkläre ich es oft so: „Die Kirche hat die Autorität von Gott. Ein freier Redner hat die Autorität von den Angehörigen und dem Verstorbenen selbst.“ Genau das macht den Unterschied aus. Ich spreche über den Menschen selbst. Denn von ihm habe ich die Autorität.
Ich wurde also angerufen, um eine Person des öffentlichen Lebens zu begleiten. Die Person war in meinem Alter. Der Abschied war überraschend und plötzlich. In den regionalen Medien erfuhr ich, um wen es sich handelte. Ich las Artikel und schaute mir YouTube-Videos über den Menschen an. Bekam ein erstes Bild über den freien Geist und das Mindset. Langsam wurde ich nervös. Mir wurde klar, dass sehr viele Menschen an der Trauerfeier teilnehmen werden. Ich spürte den intellektuellen Anspruch und die Ansprüche an mich selbst wuchsen.
An einem brütend heißen Sommernachmittag fuhr ich zum Trauergespräch. Ich kam in ein abgedunkeltes Esszimmer und an einem großen Tisch saßen mit mir acht Menschen. Eltern, Geschwister, Freunde, Lebenspartner. Ich konnte spüren, wie unterschiedlich doch die Sichtweisen waren. Wie unterschiedlich die Erfahrungen waren, die die Angehörigen mit dem Menschen verbunden haben. Wie kontrovers das Bild von Freiheit war und wie kontrovers der Freigeist von seinen Lieben gesehen und unterschiedlich erlebt wurde.
Teilweise vermischte sich die Trauer mit Wut und leichter Aggressivität, Hilflosigkeit und schlichter Traurigkeit. Die Gefühle prasselten ohne Worte auf mich ein und vermischten sich mit Schweißperlen auf meiner Stirn.
„Wenn Sie sagen, dass der Verstorbene eine Lücke hinterlässt, dann komme ich zu Ihnen und nehme Ihnen das Mikrofon ab!“
Die Worte trafen mich, wie ein Pfeil. Innerhalb von Millisekunden stellte ich mir die Frage, ob das jetzt ein persönlicher Angriff gegen mich war. Währenddessen hörte ich mich – mit einer neutralen und beruhigenden Stimme – die Frage stellen: „Was wünschen Sie sich denn stattdessen, was ich sage?“
Die Frage sorgte für Ruhe und ich vermittelte immer wieder zwischen den Menschen. Versuchte die Beziehungsbrücken der Anwesenden in der Kürze der Zeit immer wieder zu reparieren, mir für jede Sicht der Dinge Zeit zu nehmen und Raum zu geben. Raum für die Verletzungen und die Gefühle jedes Einzelnen.
Nach zweieinhalb Stunden verließ ich die Familie. Mein Polohemd war tropfnass. Sämtliche Tools aus Coaching und Mediation hatten ihre Anwendung gefunden. Ich atmete tief aus. Das Gespräch hatte mich gefordert.
Ich schrieb also eine Rede. Aufgrund der vielen Nachrufe wäre es eigentlich vom Zeitfenster sinnvoll gewesen, einen Lebenslauf zu zitieren und die Nachrufe anzumoderieren. Doch ich entschied mich anders.
Als ich auf dem Friedhof ankam, lief noch eine andere Trauerfeier. Ich finde diese Taktungen auf städtischen Friedhöfen immer noch sehr befremdlich. Meine Nervosität stieg. Nun war es Zeit geworden. Die Trauerhalle füllte sich mit den neuen Gästen. Es war eine sehr illustre Gesellschaft mit sehr vielen jungen Menschen. Die Menschen trugen Hüte und bunte Kleider. Sie saßen auf dem Boden und es waren unfassbar viele Menschen. Es waren Menschen, die den Eindruck vermittelten, völlig frei von Konventionen zu sein. Ich setzte das Leben des Verstorbenen mit der Metapher Freiheit in Verbindung.
Vier Voraussetzungen für die Freiheit
1. Die erste Voraussetzung ist aus meiner Sicht, wählen zu können. Die Wahl für etwas zu haben. Die Wahl zu haben, FREI von etwas zu sein oder FREI für etwas zu sein.
2. Eine zweite Voraussetzung für die Freiheit ist das Gefühl. Sich frei fühlen und dementsprechend handeln. Ein Gefühl und ein Gespür haben.
3. Eine dritte Voraussetzung für die Freiheit ist die Selbstbestimmung. Selbstbestimmung und die Sorge um das Wohlergehen anderer müssen keine Gegensätze sein.
4. Die vierte und letzte Voraussetzung für die Freiheit ist die Unendlichkeit. Es wird immer etwas bleiben. So wie der Horizont bei einem Blick auf das Meer scheinbar nie endet, so ist Freiheit nur möglich, wenn es keine definitive Grenze gibt.
Die Menschen folgten aufmerksam meinen Worten. Man konnte die Stille im Raum greifen und das Vogelgezwitscher von draußen hören. Doch dann passierte in einem Nachruf etwas, was ich in meinem ganzen Leben niemals vergessen werde und was direkt wieder eine Gänsehaut in mir hervorruft. Ein Freund des Verstorbenen startete einen Aufruf, den er irgendwie so formulierte: „Unser geliebter Mensch hat im Leben immer wieder Menschen applaudiert und Standing Ovations gegeben. Die Person selbst hat aber nie einen Applaus bekommen oder Standing Ovations erhalten.“
„Lasst uns applaudieren.“
Wirklich alle standen auf. Applaudierten. Riefen BRAVO. Das Klatschen der Hände schallte in der Trauerhalle. Es war ein Applaus, wie ich ihn in meinem ganzen Leben noch nie gehört oder gefühlt hatte. Gefühlt hörten die Menschen auch nicht mehr auf zu klatschen. Meine Brille lief an und ich bekam weiche Knie. Ich hörte auf zu klatschen und der Applaus verstummte.
Mit dieser Energie gingen wir an die letzte Ruhestätte und nahmen Abschied. Als ich die Trauernden verließ, sah ich im Schatten den Menschen sitzen, dem es so wichtig war, dass ich gewisse Formulierungen in meiner Trauerrede weglasse.
Er sagte: „Es war schön.“ Bei der Formulierung des Wortes schön, stockte er und ergänzte … „Ähm … das darf man ja gar nicht sagen.“ Ich erwiderte: „Das darf man sehr wohl sagen. Das Leben war schön und wir feiern das Leben, also warum darf dann die Trauerfeier nicht schön sein?“ Mit Tränen in den Augen nickte er.
Als ich die schöne Friedhofsallee mit den uralten Bäumen entlang lief, begegnete mir ein Eichhörnchen. Ich dachte daran, dass der Mensch, den wir gerade verabschiedet hatten, im Scherz mal gesagt hatte, dass das Eichhörnchen sein Krafttier sei. Ich lächelte.
Mir ging die Frage durch den Kopf, wann ich jemandem in meinem Leben das letzte Mal Standing Ovations gegeben oder welche erhalten habe.
Sollten wir nicht alle unser Leben noch mehr feiern und uns öfter mal einen Applaus geben? Den Mut haben unsere Freiheit zu leben?
Um also auf meine Ursprungsfrage zurückzukommen: JA, eine Trauerfeier darf schön sein und sie darf und sollte ANDERS sein.